Als wir mit dem Englisch-Leistungskurs auf Abschlussfahrt in London waren, stand neben dem klassischen Tagesprogramm mit Shakespeare, Sightseeing und Shopping natürlich auch Feiern in einer großen Diskothek in der Weltstadt auf dem Programm. Nach einiger Zeit verließ ich die Tanzfläche mit dem Hinweis an zwei Freundinnen, dass ich jetzt in einen kleinen, exklusiven, queeren Club gehe. So tanzte ich die ganze Nacht in der berühmt-berüchtigten Candy Bar durch. Am nächsten Morgen war bei den Mitschülern Gesprächsthema Nummer 1 „Wo war Diane gewesen?“ – keiner konnte sich vorstellen, alleine die ganze Nacht in London auszugehen. Meine Freundinnen beantworteten alle Fragen grinsend mit einem „Sie war halt tanzen“. Als die Schulzeit dann endgültig zu Ende war, gingen wir am Abend unseres Abi-Balls nach Ende des formellen Teils alle noch in die örtliche Diskothek tanzen. Während wir auf den Einlass warteten, tuschelten auf einmal viele in der Schlange: „Man hat Diane in einer queeren Disco gesehen“, „Ja ja, so eine Homo Disco“, „Die spielt doch Fußball, das muss ja so sein“. Alle meine Freunde reagierten total cool: „Ja klar, wir waren auch schon mit ihr da“, oder „Natürlich, wir kennen doch auch ihre Freundin“. Somit stand ich grinsend in der Schlange und musste nichts weiter erklären. Wir betraten die Diskothek und plötzlich wurde es ein rauschender Abend. Alle „Mauerblümchen“, alle „Streber“, alle „Nerds“, alle „Coolen“, alle „Angeber“ – alle waren auf einmal wieder ganz einfach sie selber – frei von Konventionen, frei von Rollen, frei von Erwartungen. Wir tanzten ausgelassen zu den wildesten Songs, sangen Karaoke und fühlten uns unserem Abi-Lied so verbunden wie noch nie: „I will survive“ von Gloria Gaynor. Und ich wusste: Ich liebe kein Geschlecht. Ich liebe Menschen.
„Das Leben so annehmen, wie es ist!“
Nach der Schule wollte ich endlich etwas Praktisches machen und entschied mich für eine Kochausbildung. Nach etlichen Bewerbungen gab mir die Personalerin eines Cateringunternehmens einen ganz wichtigen Tipp: „Junge Frau, was du suchst, ist kreatives, eigenständiges Arbeiten – nirgendwo in der Gastronomie ist Zeit und Geld da, um junge Menschen diese Leidenschaft leben zu lassen. Wenn du wirklich relativ viel Eigenständigkeit willst – mach deine Ausbildung in einer Bank…“. Uff, ich war platt … kein Sternelokal, kein Caterer nein, eine Bank – spießiger ging es in meinen Augen kaum, doch die Argumentation war total logisch: „Banken haben Geld, eine sehr gute, hauseigene Küche ist ein gutes Aushängeschild für Geschäftsabschlüsse, da darfst du als Azubi auch mal den 300€-Steinbutt im ersten Lehrjahr zerschneiden“. Mein Ausbilder und ich merkten rasch, dass ich häufig Leerlauf bei der Arbeit hatte und mich neben den eigentlichen Ausbildungsinhalten auch für Lebensmittel- und Getränkekunde, Barkeeper- und Serviceerfahrung, Veranstaltungsplanung und -umsetzung. Einkauf, Lager- und Warenwirtschaft, Buchhaltung und dann auch die übrigen Geschäftabläufe einer Bank interessierte. Die Personalabteilung wurde hierauf aufmerksam und bot mir eine zweite Ausbildung im Bankwesen an. So wechselte ich die Kochjacke gegen den klassischen Hosenanzug und fand mich zwischen all den jungen Abiturienten wieder. Wieder eine Situation, wo ich gleich und doch so anders als die anderen war.
Mein erster Job als Führungskraft, in einer Bank, gerade Mitte zwanzig, ein Team größer 10 Personen. Das bedeutete konkret: Mitarbeitergespräche führen, Beurteilungen schreiben, über Gehaltserhöhungen entscheiden, Karrieren entwickeln und begleiten, Budgets einhalten. In alle Richtungen networken und auch noch die persönlichen Ziele erfüllen. Das Team – Männer und Frauen, wenige jünger als ich, viele älter. Menschen, die bereits bei dem Unternehmen arbeiteten, bevor ich überhaupt geboren wurde. Im Management um mich herum: wenige Frauen, viele Männer – alle älter. So fühlte ich mich die erste Zeit besonders „unter Beobachtung“: Wie würde eine so junge Frau in der Männerdomäne Bank die Balance zwischen „Zielerreichung des Teams“ und „Wertschätzung gegenüber den Kollegen“ halten. Sätze wie „…wir haben das immer schon so gemacht“, über „…willst du dir nicht lieber einen Kombi kaufen, da passt der Kinderwagen rein – ach ne, spielt für dich ja keine Rolle“ fielen immer seltener und bald merkten wir alle, dass Alter, Geschlecht und sexuelle Orientierung keine wesentliche Rolle für unser wertschätzendes Miteinander in der täglichen Arbeit spielten.
„Wie lange weißt du denn schon Bescheid?“ Die Frage zwischen Pasta und Fisch, mitten in der Kantine, einfach so an mich gerichtet. Ich überlegte beim Kauen „hm, worüber sollte ich Bescheid wissen… ?“. „Na, dass du hochbegabt bist?“ hörte ich als nächstes. „Wie hochbegabt, was soll das denn heißen“, schwirrte es durch meinen Kopf und der Gedanke „Wie komme ich schnellstmöglich wieder an meinen Arbeitsplatz?“ ploppte hoch – einfach nur elegant das Mittagessen beenden und abtauchen, in den Alltag fliehen und nicht weiter darüber nachdenken. Tja, da war ich Mitte dreißig und hörte das erste Mal in meinem Leben von den Themen Hochbegabung und Hochsensibilität. In der Freizeit betrieb ich dann „heimliche“ Recherche dazu im Internet, ich wollte so schnell mit niemanden darüber sprechen. Gedanken kamen hoch wie „stell dir mal vor: da traust du dich mit einem Vertrauten über das Thema zu sprechen und nach einem IQ-Test stellt sich heraus, dass du es gar nicht bist“ oder „ich hochbegabt, kann nicht sein – ich hatte doch nie tollen Noten“ bis zu „und dann, was habe ich denn von der Erkenntnis – das ändert doch nichts“. Zwei Jahre später hielt ich es „schwarz auf weiß“ in den Händen – das Ergebnis eines Intelligenztests und ein dazu auf mich persönlich ausgerichtetes Gutachten über meine verschiedenen Fähigkeiten. Und heute, heute gehört das Thema wie selbstverständlich zu mir. Es steht nicht immer im Fokus, doch manchmal erklärt es mir ganz viel von dem, was in mir vorgeht. Einfach eine weitere Facette, für die ich dankbar bin.
Das Leben ist endlich. Das weiß jeder. Es ist das eine, zu wissen, dass jeder mal gehen muss. Doch wenn es konkret wird, was dann? Wenn ein geliebter Mensch erkrankt, sich nicht mehr artikulieren kann und von Tag zu Tag schwächer wird. Mein Vater war in dieser Situation. Und ich, ich war noch keine 40 und fragte mich, ob er sein Leben gelebt hatte – wie er es wollte, ob es ihn glücklich gemacht hat. Wir haben „damals“, als er noch gesund war und in Ruhestand gegangen ist, nie über so etwas gesprochen. Ich hoffe und denke, dass er seinen Weg eingeschlagen hat, sich das Ende aber bestimmt anders und wann anders gewünscht hat. Was macht das mit mir? Bis zum letzten Atemzug einen Menschen begleiten, zu sehen, zu fühlen, zu hören, dass ein Leben endlich ist. Neben dem Abschied, der Trauer und auch der Erleichterung, dass er es geschafft hat, fragte ich mich: Wie soll die Bilanz deines Lebens am Ende aussehen? Egal, wie sie bei jedem Einzelnen von uns aussehen wird, ich wünsche uns allen ein bewusstes, liebevolles, wertschätzendes Leben – jeden Tag – jetzt.